Ruedi Walter als «wildgewordener Kleinbürger»

Bei der Arbeit an der Bildbiografie bin ich jetzt bei einer besonders spannenden Persönlichkeit angelangt: Bei C.F. Vaucher, der neben Alfred Rasser ab 1943 als Texter und Regisseur die zweite tragende Figur beim Cabaret «Kaktus» war. Und er dürfte – vielleicht noch entscheidender  als Alfred Rasser – den jungen Ruedi Walter als Schauspieler mit geformt haben. Ein in der Sammlung Irène Walter erhaltener Brief zeigt ihn als eigentlichen Mentor des jungen Ruedi. Und er hat seinen «Zögling» später in einem Essay ganz prägnant charakteriesiert - als «wildgewordenen Kleinbürger». Hier der köstliche Text in vollem Wortlaut:



In den «Kaktus» holten wir uns ein sagenhaftes Männlein, das seinem Aussehen nach sich eher zum Standesbeamten  geeignet hätte. Er hat heute grosse Karriere gemacht. Er tendiert mehr in Richtung Volksschauspieler, wie Hegi, der sein  Leben lang in der «Schale» ein Zuckerbäcker blieb, aber drin war der süsseste Kunstkern. So ist es auch bei Ruedi  Walter. Er ist ein wildgewordener Kleinbürger, aber nur vom Standpunkt des Kleinbürgers aus. Denn eben diese  Verbun­denheit zu jener staatserhaltenden Schicht verleiht ihm jene Musikalität, welche das Herz des Volkes zu rühren  vermag.
Er hat die Fähigkeit, selbst noch den Kitsch mit einem An­strich von Gold zu überziehen. Und was das Privatleben  an­ betrifft: es ist beinahe so ordentlich, skandalarm und langwei­lig perfekt, wie das eines Staatsbeamten. Er ist kein  Künstler von Berufs wegen:  er führt ein Doppelleben.